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Die Lady

 

Das Ehepaar Ingrid und Werner Weingarten hatte sich in dem kleinen Fischerdorf Mílatos kennen und lieben gelernt. Seitdem waren ihre Herzen für Kreta entflammt, für die idyllische griechische Mittelmeerinsel mit den gastfreundlichen Bewohnern, dem strahlend blauen Himmel und der wärmenden Sonne. Seit Jahrzehnten verbrachten sie den Urlaub, inzwischen gemeinsam mit den beiden Söhnen Marcel und Michael, auf der Insel.

 

In jenem Sommer sollte ihr Aufenthalt etwas Besonderes für sie bereithalten. Viele Jahre hatten sie sich den Tag herbeigewünscht, der ihnen den lang ersehnten Traum erfüllen würde. Das Holzsegelboot mit einer Länge von sechzehn Metern lag nach einem Jahr Bauzeit im Trockendock vor ihnen. Weiß, mit einer blauen Zierleiste, schimmerte es in der heißen Mittagssonne. Bisher hatten sie sich während ihres Urlaubs immer für drei Tage ein Schiff gemietet. Dieses Mal war es ihr eigenes Segelboot, mit dem sie in See stechen würden.

 

Vor dem ersten Auslaufen tauften sie das Boot auf den Namen ‚Lady’. Die Lady glitt stolz und würdevoll ins Wasser. Zwei Tage musste sie noch aus technischen Gründen im Hafen von Iraklion vor Anker liegen, bevor sich die Familie mit ihr auf Jungfernfahrt und auf Inselumsegelung begeben konnte.

 

Achter August, es war soweit. Ausgestattet mit reichlich Proviant begab sich Familie Weingarten an Bord. Zur Sicherheit zogen die Jungs ihre Schwimmwesten über. Die Vorhersage für die kommenden Tage hatte sonniges Wetter und eine Windstärke von fünf bis sechs gemeldet. Ideal zum Segeln. Mit dem Motor steuerte Werner die Lady aus dem Hafenbecken. Seine Familienschiffsmannschaft stand bereit, um die beiden Segel zu hissen. Die Lady glitt hinaus aufs offene Meer. Marcel und Michael genossen auf dem Vorderdeck Sonne, Wind und Wellen. Ingrid richtete sich in der kleinen Kombüse ein und bereitete Snacks vor.

 

Ein Traum wurde Wirklichkeit. Werner stand als stolzer und freudestrahlender Kapitän am Ruder des Segelbootes und genoss jede Meile, die sie auf dem Mittelmeer zurücklegten. In der Ferne der Horizont, vor ihnen die beeindruckende Weite des Ozeans. Werner zog die Pfeife aus der Hosentasche, zündete sie an, und der feine Tabak ließ ihn die überwältigende Aussicht noch mehr genießen. Nach einer Stunde Fahrt wurde es den Kindern langweilig und sie durchstöberten jede nur erdenkliche Ecke des Bootes. Als sie ihren Rundgang beendet hatten, wollten beide das Ruder führen, und Werner ließ einen nach dem anderen die Lady steuern. Ingrid verwöhnte sie unterdessen mit griechischem Kartoffelsalat und eisgekühltem Wassermelonensalat. Sie befanden sich fünfzehn Seemeilen vom Ufer entfernt. Die Insel Kreta war nicht mehr zu sehen.

 

Hier, auf hoher See, überließ Werner für kurze Zeit seinen Söhnen das Ruder und überprüfte unter Deck, ob Wasser in den Innenraum drang. Er kam damit einer Bitte des Schiffsbauers nach, der hervorragende Arbeit geleistet hatte. Das Schiff war dicht. Als Werner zurück an Deck stieg, hatte es sich Ingrid auf dem Vorderdeck gemütlich gemacht. Aus dem Kassettenrekorder ertönte sanfte Musik. Er übernahm das Ruder. Marcel und Michael holten aus ihrer Koje ein Backgammonspiel und ließen sich hinter dem Vater an einem kleinen Tisch nieder. Ab und zu stritten sie halb spaßig, halb ernst, wenn Michael zu mogeln versuchte. Werner fiel es schwer, sich daran zu erinnern, wie lange es her war, dass sich seine Familie gemütlich, harmonisch und friedlich zusammengefunden hatte. In Deutschland war das bei all der Hektik und dem Stress selten möglich.

 

Die Lady segelte weiter dem Horizont entgegen. Am Abend wollte die Familie den Hafen von Sitia im Osten anlaufen, um dort die ländliche Küche zu genießen. Von Zeit zu Zeit gesellten sich Delphine zu ihnen und begleiteten den Ausflug. Vor lauter Begeisterung versuchten die Jungs, sie näher ans Boot zu locken, um sie streicheln zu können. Michael streckte die Hände ins Wasser, doch die Tiere hielten sicheren Abstand. Als die Delphine die Richtung wechselten, vertieften sich Marcel und Michael wieder in ihr Spiel.

 

Nach sechs Stunden Segeln erblickte Werner am Horizont  Wolken. Sie zogen sich schnell zusammen. Ingrid lag in der Kabine, um einen Mittagsschlaf zu halten. Marcel und Michael trugen nach einem Gleichstand die Gewinnerrunde aus.

 

In rasender Geschwindigkeit verdichtete sich die Wolkendecke, nur ein schmaler Sonnenstrahl brach noch hindurch. Wind zog auf und der Wellengang verstärkte sich. Werner rief den Söhnen zu, ihr Spiel zu beenden und die Mutter zu wecken, damit sie die Schwimmweste überzog. Schlaftrunken stieg Ingrid aufs Deck. Marcel reichte dem Vater die Weste, und Michael half ihm beim Einholen eines Segels. Die tief hängenden, grauen Wolken sahen bedrohlich aus. Wellen schlugen über dem Vorderdeck zusammen.

 

Ingrid bat die Kinder, unter Deck zu gehen und leistete Werner Gesellschaft, um dem Naturschauspiel beizuwohnen. Die Lady legte sich von einer Seite auf die andere. Mit verkrampften Händen hielt Werner das Ruder fest. Blitze zuckten vom Himmel, und Ingrid schrie vor lauter Schreck auf. Marcel und Michael waren verängstigt. Ein weiterer Blitz schlug, synchron mit dem Donner, in unmittelbarer Nähe ein. Die Lady wurde von dem sich aufbäumenden Meer hin und her geschaukelt. Starke Wellen schlugen gegen sie und immer wieder sah es aus, als würde die Lady kentern. Doch sie widerstand. Die Eheleute versuchten, so gut es ging, auf Deck Balance zu halten. Ingrid übernahm das Ruder, damit Werner das zweite Segel einholen konnte.

 

Der Tag wurde durch die schwarzen, furchterregenden Wolken zur Nacht. Die Blitze wurden aggressiver und hohe Wellen kämpften immer zäher um die Lady. Ein plötzlich einsetzender Platzregen ging auf sie nieder. Werner übernahm das Steuer und bedeutete Ingrid, sich zu den Kindern unter Deck zu begeben. Mit einem grellen Blitzschlag fielen walnussgroße Hagelkörner vom Himmel.

 

Zum Glück war der Platz am Steuer durch ein Holzdach geschützt. Die Wellen teilten sich und versuchten, die Lady in die Tiefe zu reißen. Der Sturm peitschte die Wellen höher und höher, die sich immer härter an der Lady brachen. Das Ruder war nicht mehr zu halten. Werner ließ der Lady freien Lauf und vertraute ihr das Leben seiner Familie an. Er hoffte, sie würde den mächtigen Naturgewalten widerstehen und sie nicht untergehen lassen. Ihm brach der Angstschweiß aus. Seine Kleidung war vom Regen und der Gischt durchnässt. Wie lange es dauerte, konnte er nicht sagen. Dann, mit einem Schlag, war das Naturereignis beendet. Er verspürte nach all der Sorge den Wunsch nach einem kühlen Getränk. Die Sonne strahlte grell in seine Augen, als er sie öffnete.

 

„Freust du dich auf die morgige Jungfernfahrt, Werner?“, fragte Ingrid, die sich neben ihrem Ehemann auf dem Liegestuhl am Strand von Iraklion sonnte. Marcel und Michael spielten auf einer Decke Backgammon.

 

Copyright 2018 Sigrid Wohlgemuth